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Würde Ahoi!

Als Kind habe ich es geliebt, bei einer Schifffahrt anderen Menschen zuzuwinken, die ebenfalls übers Wasser tuckerten. Heute beobachte ich von manch einer Brücke erwachsene Menschen dabei, wie sie das Gleiche tun. Was wollen sie damit sagen?

Es ist nicht so, dass ich eine freundliche Geste nicht schätzen kann, wenn sie mir entgegengebracht wird, aber in diesem speziellen Fall werde ich immer wieder stutzig. Würden sich diese Menschen auch zuwinken, wenn sie sich in der Fußgängerzone oder am Bahnhof begegnen würden? Vermutlich nicht. Man muss diese Leute erst aufs Wasser hinausschicken, damit sie die Hand zum Gruß heben. Ähnliches passiert mit Menschen, die sich im Aufzug begegnen. Auf diesen wenigen Quadratmetern wird plötzlich gegrüßt. Es werden freundliche Blicke ausgetauscht oder es wird füreinander der Knopf gedrückt, kaum dass sich die Metalltüren zuschieben. Auch Arbeitnehmer in großen Unternehmen grüßen sich auf dem Flur. Selbst dann, wenn sie das Gegenüber nie zuvor gesehen haben. Außerhalb der Bürowände kämen sie oft nicht mal auf die Idee.

Woran liegt es, dass wir uns in einer bestimmten Umgebung so speziell verhalten?

Mir wurde die Erklärung in einem Restaurant geliefert, wo diese scheinbar willkürlich auftretende Freundlichkeit im Absurden gipfelte. Ich ging dort mit meiner Tochter hin. Als wir uns an den Tisch setzten, taxierten uns die Damen vom Nachbartisch kritisch. Dann tuschelten sie unverhohlen. Ganz offensichtlich waren wir das Thema, auch wenn wir nicht verstehen konnten, was sie sagten. Wir reagierten mit entsprechend unfreundlichen Blicken und bestellten kurz darauf Getränke und Speisen. Bei einer Bedienung, die sichtlich überfordert war. Nicht, weil es so viele Gäste oder so wenig Personal gab; nein, diese Frau schien einfach nicht für diesen Beruf gemacht zu sein. Sie muss ein schlechtes Gehör und ein schlechtes Gedächtnis haben. So erklärten wir uns zumindest, warum sie nicht eine bestellte Sache richtig an den Tisch oder überhaupt aus der Küche herausbrachte. Und weil sie auch noch ständig die Tische vertauschte und es den anderen Gästen somit wie uns erging, blieb unser Erstaunen über die Kellnerin nicht unbemerkt. Als wir gerade den Crepe mit Erdbeeren und Äpfeln hatten zurückgehen lassen, weil wir uns auf Nougat und Vanilleeis gefreut hatten, mischten sich die Damen vom Nachbartisch ein: „Klappt irgendwie nicht so gut heute mit den Bestellungen, was?“, kommentierte eine von ihnen, während beide gleichzeitig gütig und genervt lächelten, weil auch sie schon das falsche Essen bekommen hatten. Da saßen diese Frauen, die eben noch abschätzig getuschelt hatten und wollten sich jetzt mit uns verbünden. Ist das nicht interessant?

Mir ist in diesem Moment noch einmal klargeworden, dass wir Menschen immer nach Gleichgesinnten suchen. Wir brauchen Orientierung in der Welt und im Zwischenmenschlichen und die holen wir uns über den Vergleich mit anderen: Schöner, besser, schlechter, schlauer oder einfach ähnlich, gleich und damit verbunden. Während wir beim ersten Vergleich der beiden Frauen noch schlecht wegkamen und zum Tuschelthema wurden, erkannten sie beim zweiten Vergleich in uns die Verbündeten, die dasselbe Schicksal der unzuverlässigen Kellnerin erlitten.

Mir ist aufgefallen, in welchen Situationen dieses Verhalten noch zu beobachten ist. Kennst Du es auch, dass sich wildfremde Menschen im Zug plötzlich austauschen, gemeinsam schimpfen oder sich mit Rat und Tat zur Seite stehen, wenn sie unter der gleichen Verspätung leiden? Liefe im Fahrplan alles glatt, würden sie wahrscheinlich kein Wort wechseln, aber das gemeinsame Schicksal verbindet. Genauso ist es, wenn ein Flug gestrichen wird, wenn man sich im über die Hotline des Telefon-Anbieters austauscht oder wenn man sich zufällig gleichzeitig und atemlos bei Platzregen in das Bushäuschen rettet. Ich möchte dieses Verhalten ganz und gar nicht verurteilen, es macht nur so wunderbar deutlich, wie wir Menschen ticken: Wir müssen uns mit unseren Mitmenschen vergleichen, damit wir entweder mitfühlend oder ablehnend auf sie reagieren können. Erst über dieses Abgleichen nähern wir uns emotional an.

Das erklärt, warum weit entfernte Kriege so viele Menschen kalt lassen. Warum Menschen einfach und ohne Emotionen hinnehmen, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Hier fehlt den meisten der Vergleich. Wer weiß schon, wie es ist, wenn das eigene Haus in Aleppo von einer Kriegsbombe zerstört und die gesamte Familie getötet wird?

Zum Glück gibt es viele Menschen, die auch in Situationen mitfühlen können, die sie nicht kennen. Das sind Menschen, die sich die Mühe machen, einen Vergleich zu suchen, auch wenn keiner ins Auge springt. Wer sich Zeit nimmt, sich in die fremde Situation reinzudenken, sie mit der eigenen zu vergleichen und sich so vorstellt, das eigene Haus würde in Schutt und Asche liegen und die Familie würde auseinandergerissen, der wird auch an das Gefühl kommen, das dahintersteckt. Denjenigen können solche Schicksale nicht mehr kalt lassen.

Das Ganze ist das Grundprinzip der Würde. Im besten Falle kennen wir unsere eigene Würde, also dieses Tiefe Gespür in uns, unsere persönlichen Grenzen, unsere innersten Bedürfnisse und Wünsche. Denn wenn wir uns derer bewusst sind, achten wir auch die der anderen. Und nur, wenn wir unsere eigene Würde achten, ist es uns überhaupt möglich, die der anderen zu respektieren. So entsteht Empathie. Wenn wir dieses Prinzip von Würde, Empathie und Gemeinsamkeit erkannt haben, können wir eine respekt- und liebevolle Welt gestalten. Denn dann können wir den Obdachlosen achten, den anders Gläubigen, den Nachbarn mit der wuchernden Hecke, die Frau mit der anderen Vorstellung von Mode, den Kollegen mit dem wippenden Fuß und die bockigen Kinder.

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Was passiert, wenn sich Menschen auf Schiffen zuwinken, ist also ein wunderbarer Prozess der Verbindung, des ver- und Angleichens. Ich habe ganz und gar kein Problem damit, wenn Menschen das tun, stutzig werde ich aber auch weiterhin sein. Denn lasst uns doch auch dann winken, lächeln, kommunizieren und helfen, wenn wir nicht in einem verspäteten Zug gefangen, in einen Aufzug gepfercht oder auf ein Schiff verfrachtet wurden. Sondern auch dann, wenn wir Alte pflegen, Schüler unterrichten, mit der Kassiererin reden oder dem Nachbarshund begegnen.  Wenn wir es im Alltag schaffen, uns anzugleichen, die Gemeinsamkeit des Menschseins zu entdecken und eine starke Verbindung aufzubauen, dann wartet auf uns eine wunderbare Welt.